last update: 26.02.2024 20:03

Da ich in der Industrie sehr viel gelernt hatte, beschloß ich, mit einschlägigen Spezial-Aufgaben für deutsche Industrie mir einen freien Wirkungskreis zu schaffen: Ich habe deutschen Industrien mit meiner "Ermittlungstätigkeit" (oft unter Einsatz ernster Gefährdung) im In- wie Auslande Dienste geleistet, die die große Zahl der dafür mir zu Gebote stehenden Zeugnisse belegt.

Ich habe schwere Zeiten durchlebt, Zeiten, in denen ich nicht wußte, wie ich über den nächsten Tag hinwegkommen würde. Ich habe andererseits mir einen nicht unerheblichen Grundbesitz (Berlin) aus eigener Kraft geschaffen.

Mein treuester Begleiter war der Haß; denn ganz natürlich brachte jeder Kampf für einen meiner Mandanten mir den Haß einer ganzen Clique ein, die unterlag; und ich habe (vielleicht ein Fehler!) nie gefragt, "wer" zum Kreise der Gegnerschaft gehörte oder "hinter diesem Stand".

Telefonbuch von Berlin (1923)
"Geheimagent" Harun-el-Raschid Bey
im Berliner Straßenbild (1926)
Die oben getätigten Aussagen muß man erst einmal so stehen lassen. Es ist im Prinzip nichts genaues über den beruflichen Werdegang von Wilhelm Harun-el-Raschid Hintersatz für die nächsten knapp 10 Jahre bekannt. Möglicherweise hat es tatsächlich etwas mit (s)einer Ermittlungstätigkeit zu tun, denn entsprechende Nachweise dürften demzufolge schwer zu beschaffen sein. Von der "großen Zahl" an Zeugnissen seiner Einsätze ist jedenfalls nichts bekannt oder überliefert.

Ab Anfang der 1920er Jahre "rührte" Wilhelm auch noch in einigen anderen Firmen herum. Zwischen 1925 und 1926 war er Geschäftsführer einer Firma namens SANKO, die seit 1921 unter verschiedenen Namen agierte. Daneben hatte er seit 1921 in der HALRA Export- & Importgesellschaft ebenfalls einen Geschäftsführerposten inne. Letzteres dauerte mindestens bis 1926, wenn nicht sogar bis zum Erlöschen der Firma im Februar 1928, an.

1927 wechselte Wilhelm die Branche und stieg bei der "Innere Stadt" Grundstücks-Verwaltungs-und Verwertungs-Aktiengesellschaft ein und dort zum Vorstand auf.
Vermutlich war es dieser Wirtschaftszweig, der ihn motivierte, nicht nur fremder Leute Eigentum zu verwalten sondern auch eigene Immobilien zu erwerben und zu vermarkten.
Den Vorstandsposten bei der "Inneren Stadt" hatte Wilhelm bis mindestens 1934 inne.

Seine "schweren Zeiten" kann man nach meiner Einschätzung sicher in das Reich der Märchen verbannen. Denn die vorliegenden Fotos zeigen vielmehr einen gut situierten Herren, der neben seiner Passion für das Sammeln von Waffen und Militärsouvenirs, beginnt, eine Leidenschaft für Automobile zu entwickeln. Darüberhinaus entdeckte er auch seine Liebe zu allerlei Hunderassen...

1927
Ich täusche mich nicht... das kleine Fähnchen, das man am Bug des Hanomag 2/10 PS "Kommissbrot" sehen kann, ist ein türkisches! Hier treibt Wilhelms anhaltende Orient-Fixierung, die auch in der folgenden Selbstaussage zum Ausdruck kommt, offenbar Blüten:

Ich aber bin meiner nun einmal offen bekannten Devise treu geblieben und habe unermüdlich über alles das, was im Orient vorging, mich auf dem Laufenden gehalten, habe mit islamischen Kreisen aus aller Welt Fühlung genommen, - der Deutsche, der auf Auslug stand und ... steht, um - ebenso unbeirrt wie lange Zeit unverstanden und daher angefeindet! - immer bereit zu sein zum Mittun an der Stelle, wo einmal Deutschlands gefährlichster Feind (England) die Achilles-Ferse bieten würde. Und immer wieder habe ich betont, daß das im Gebiet "Orient-Islam" sein werde.
In Deutschland freilich war man demgegenüber zum Teil gleichgültig, zum Teil "überlegen abweisend".
So hatte ich, an meiner Überzeugung festhaltend, wenigstens zeitweise diese und jene Befriedigung, so wenn ich befreundete Industrien durch Einfluß und Beziehungen nützen konnte, und so - hierin in immerhin größerem Ausmaße - in folgendem Sonderfall:

Ich bin es gewesen, der den Schwiegersohn des Schah von Persien, Chef des Persischen Sanitäts- und Hygienewesens, Exz. General Dr. Hadi Chan Attabay, der auf seiner Durchreise durch Deutschland nach Paris mit mir Verbindung aufnahm, zu bestimmen wußte, den Abschluß seiner medizinischen Studien nicht, wie vorgesehen, in Paris, sondern in Berlin durchzuführen.
Der Plan ist mir geglückt. Ergebnis: Die nicht unerheblichen Lieferungen Deutschlands in Zeiten seiner übelsten Wirtschaftsklemme an Persien in sanitären Anlagen und Artikeln aller Art, an Lazaretten - von den Bauten über die Innenausstattungen bis zu den Ärzten, an Medikamenten usw.!
Mein Äquivalent war allein die innere Befriedigung über das gelungene Werk zu Deutschlands Nutzen.

Es ist aktuell unklar, ob diese Geschichte den Tatsachen entspricht und in welchen Zeitabschnitt sie überhaupt gehören könnte.

Wilhelm junior genügte es scheinbar nicht mehr, nur allein auf Visitenkarten oder auf Geschäftsbriefen seiner Detektei seine Faszination für das Osmanische Reich kund zu tun, sondern er baute sich zusätzlich eine Standarte an sein Auto. Zuzutrauen ist ihm eine solche Exzentrik durchaus.

Geschäftsbriefumschlag wie er im Jahr 1922 verwendet wurde.
Apropos Exzentrik. Wahrscheinlich 1928 ließ Wilhelm ein professionelles "Promotionfoto" von sich anfertigen, welches ihn in osmanischer Uniform, mit allen Orden, die an selbige passten und mit Fez und osmanischem Offizierssäbel zeigt.

Diese Aufnahme war bis 2020 das einzige öffentlich verfügbare Bilddokument, das ihm zugeordnet werden konnte. Die Version die bislang kursierte, zeigt interessanterweise etwas mehr Bildinformation links, dies jedoch in vergleichsweise schlechter Qualität.

Daß das Foto 2006 überhaupt in der Öffentlichkeit auftauchte, ist wohl einem sehr großen Zufall zu verdanken gewesen: In den Jahren 2003/04 arbeitete Carlos Puente im Historischen Archiv des Außenministeriums (Archivo del Ministerio de Relaciones Exteriores del Ecuador) seines Heimatlandes Equador. Dabei stieß er auf eine Akte, deren Deckblatt sein Interesse weckte, denn darauf klebte eine Variante jenes Fotos. Was daran genau ihn faszinierte, lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr rekapitulieren. Vielleicht waren es die vielen Orden?

Deckblatt der Akte aus dem Archiv in Quito
Das "berühmte" Foto (1928)
mit dessen Hilfe sich eine ganze
Reihe von Orden und Auszeichnungen nachweisen lassen,
die Wilhelm bis zu diesem Zeitpunkt erhalten hatte.

Immerhin fertigte Carlos Puente einige Fotos von der Akte an. Sowohl vom Deckblatt, wie auch von dem darin enthaltenen 5-seitigen Lebenslauf der, maschinengeschrieben und ins Spanische übersetzt, die Zeit bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre abdeckt.

Wenige Jahre später veröffentlichte Carlos seine Schnappschüsse (in katastrophaler Qualität) in einem Internet-Forum, womit etwa zeitgleich die weltweite Verbreitung des Fotos einsetzte.

Leider erinnert sich der Entdecker der Akte nur noch sehr bruchstückhaft an die damit in Zusammenhang stehende Thematik. Immerhin ist es ein absolutes Mysterium, warum diese Akte dort existiert(e). Aus welchem Grund führte das ecuadorianische Außenministerium eine Akte über Wilhelm? Das Foto und der Lebenslauf wurden mit Sicherheit durch Wilhelm gestellt. Hatte sich Wilhelm auf irgendeinen Posten in dem südamerikanischen Staat beworben? Carlos meint sich daran zu erinnern, daß die Akte im Zusammenhang mit einem Vorschlag hinsichtlich der Besiedlung des Amazonas-Gebietes in jenen Jahren, stand. Sicher ist dies jedoch nicht.

Ich bemühe mich seit Beginn an, valide Informationen, wenn möglich sogar eine Kopie der Akte, aus dem Archiv in Quito zu erhalten. Selbst unter Einschaltung des ecuadorianischen Konsulates in Berlin, aber bislang ohne den geringsten Erfolg.

Eventuell würde das Aufhellen des Kontextes eine weitere Facette von Wilhelms Exzentrik offenbaren. Es klingt schon ein wenig verrückt, wenn sich ein protestantisch Aufgewachsener, der zwischenzeitlich zum Islam konvertierte, nun plötzlich in einem erzkatholischen Umfeld profilieren möchte. Ich schließe dahingehend überhaupt nichts mehr aus!

Wilhelm selbst war von seiner fotografischen Darstellung derart angetan, daß fortan eine Version davon an Wänden oder auf Anrichten in seinen Wohnungen hing oder stand...

Stillleben aus der Wohnung Harun-el-Raschid Bey (ca. 1940)
Man erkennt deutlich das "Mehr" an Bildinformation
im Vergleich zu der Version rechts.
Es wäre interessant zu erfahren, was seine Familie von derlei Selbstdarstellung hielt, und was sie sagte, wenn er mit seinem Auto und aufgespannter Standarte bei Familientreffen aufkreuzte...

Louise und Wilhelm Hintersatz (1926)
Und diese Familientreffen fanden relativ häufig statt. Entweder in Hohen-Neuendorf oder in Senftenberg. In Senftenberg hatten die Eltern die Wohnung in der Oberpfarre, die sie 40 Jahre lang (zuerst im alten, dann im neuen Haus) inne hatten, verlassen. Wann und in welche Richtung dies zunächst passierte ist etwas unklar. Sicher ist, daß sie für einige Jahre Senftenberg den Rücken gekehrt hatten und mit der frisch geschiedenen Johanna in Hohen-Neuendorf im Norden Berlins lebten. Mutmaßlich würde dies den Zeitraum von 1925 bis 1929 abdecken. Im Sommer 1929 (es gibt einen Hinweis auf die "Anzeige eines Wohnungswechsels" vom 24. Juni 1929) waren sie jedoch zurück in Senftenberg und bezogen eine Wohnung auf dem Grundstück des Malermeisters Schönert (Gartenstraße 31). Das Ehepaar zog sich nach dem Dienstende des Oberpfarrers aus dem öffentlichen Leben weitestgehend zurück was sicher auch nicht allzu schwer fiel. Beide waren zu dem Zeitpunkt bereits um die 70 Jahre alt.
Adressbuch von Hohen-Neuendorf
(1926)
Anzumerken ist, daß sämtliche Einwohnerbücher Senftenbergs ab 1925 kaum mehr Angaben zum Wohnsitz der Familie Hintersatz lieferten, was in dem zeitweiligen Wegzug begründet war, nach ihrer Wiederkehr aber auch nicht revidiert wurde. Für Nutzer dieser Auskunftsbücher war das Paar aus Senftenberg verschwunden.
Wenigstens der "Senftenberger Anzeiger" informierte hin und wieder seine Leser, daß ihr ehemaliger Pfarrer noch (bzw. wieder) in der Stadt lebt...
Senftenberger Anzeiger (Januar 1930)
Senftenberg - 5. September 1930
Wilhelm Harun-el-Raschid Bey - Georg Vogel - Johanna Vogel
Louise Hintersatz - Wilhelm Hintersatz
Oktober 1930
Auf obigem Foto, das am 73. Geburtstag der Mutter aufgenommen wurde, erkennt man im Hintergrund das Haus auf dem Hof von Malermeister Schönert, in welchem Louise und Oberpfarrer a.D. Wilhelm Hintersatz zu dieser Zeit wohnten.

Das seit spätestens 1926 neue Familienmitglied ist Hermann Ernst Georg Vogel. Jurist von Beruf und am 10. November 1900 in Senftenbergs Vorort Thamm als Sohn des hiesigen Kaufmanns Hermann Vogel geboren.
Sein Werdegang ist aktuell noch nicht ausreichend belegbar. Bruchstücke seiner Biographie sind hier abgelegt.

Johanna und Georg heirateten am 5. Dezember 1927 in Hohen-Neuendorf bei Berlin. Dies erfolgte dort sowohl standesamtlich wie auch kirchlich. Letzteres wurde einmal mehr von Johannas Vater, Oberpfarrer a.D. Wilhelm Hintersatz, vollzogen.

Auszug aus dem Kirchenbuch von Hohen-Neuendorf (Trauungen 1904-1935)
Danach lebte das Paar noch bis mindestens 1929 dort, um später nach Senftenberg umzuziehen, wo Georg Vogel eine Rechtsanwaltskanzlei unterhalten wird.

Senftenberger Anzeiger (September 1933)
Johanna und Georg Vogel
Baabe auf Rügen (1928)
1929 - Georg und Johanna sowie Louise und Wilhelm
schauen aus den Fenstern des Hauses in der
Senftenberger Gartenstraße 31.
Auch das Personal darf wieder mit aufs Foto.
 
Ab September 1933 befand sich Vogels Kanzlei zunächst in unmittelbarer Nähe des Domizils seiner Schwiegereltern um nur wenig später in die Bahnhofstraße 34a umzuziehen. Es besteht jedoch der Verdacht, daß Vogels zu dieser Zeit noch nicht in Senftenberg wohnten, sondern weiterhin nördlich von Berlin. Wenn auch nicht zwingend in Hohen-Neuendorf.

"Rechtsanwalt" ist das Stichwort! 1930 stand Wilhelm vor Gericht. Nicht als Angeklagter, sondern als "Anzeigender". Die nachfolgende Geschichte ist mal wieder ein Paradebeispiel für seinen Geltungsdrang. Der ganze Fall war offensichtlich bizarr genug, daß selbst überregionale Zeitungen darüber berichteten. Selbst US-amerikanische Zeitungen wie "The Palm Beach Post" in ihrer Ausgabe vom 14. November 1930 berichteten Monate später über die Aktion. Dabei erhielten die Leser zusätzlich einen kleinen und gleichzeitig nicht ganz korrekten Einblick in Wilhelms Vita. Bemerkenswert ist die dort wiedergegebene (angebliche) Wortmeldung des Beschwerdeführers: "Ich bin Besitzer der höchsten deutschen Auszeichnung für Lebensrettung. Doch mein Antrieb ist derselbe, egal ob es sich um die Rettung eines Menschen oder aber eines leidenden Tieres handelt."

Die Wiener "Arbeiterzeitung" in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1930 würzte die Story (das Faksimile stammt hingegen aus "Der Wiener Tag" vom 27.Juli 1930) mit zusätzlichen Details und einer gehörigen Portion Sarkasmus (siehe Hervorhebung):

Berliner Blätter berichten über folgende Strafverhandlung: Die Verhandlung dieses Prozesses begann damit, daß auf einer Porzellanschüssel, fein säuberlich auf Salatblättern gebettet, ein lebender Hummer auf den Gerichtstisch gestellt wurde. Aber nicht dieser Hummer, sondern ein Artgenosse, der schon vor fünf Monaten den Weg seiner Bestimmung gegangen und verspeist worden ist, beschäftigte in einer Verhandlung das Amtsgericht Schöneberg unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrates Kyser. Angeklagt war der Feinkosthändler Martin, weil er einen Hummer in ärgerniserregender Weise gequält haben sollte. Er hatte einen Strafbefehl über zwanzig Mark erhalten und dagegen Einspruch erhoben. Zur Verhandlung waren drei namhafte Sachverständige geladen worden, von denen man eine kleine Vorlesung über Hummer und Krebse zu hören bekam. Die Anzeige hatte der osmanische Oberst a.D. Harun al Raschid erstattet, und der Anzeigende trat auch als einziger Belastungszeuge auf. Er war am 24. Februar gegend Abend mit seinem Auto vor dem Delikatessengeschäft am Nürnberger Platz vorgefahren und hatte die Schaufensterauslage besichtigt. Dabei hatte er daran Anstoß genommen, daß der Hummer im Fenster in gefesseltem Zustand ausgestellt war. Es waren zwei Schnüre über den Rücken gezogen und dadurch war das Tier fest mit dem Bauche auf die glasierte Fläche gedrückt. Das Tier war bestrebt, sich freizumachen und das bedeutete für den Zeugen, der besonders betonte, daß er als alter Soldat kein Tierschutzfanatiker sei, daß der Hummer große Qualen litt. Er ging daher in das Geschäft hinein und verlangte von einem Angestellten die Befreiung des Hummers. Es wurde ihm aber von dem Angestellten nach Rücksprache mit einem anderen geantwortet, man denke gar nicht daran. Nun fuhr der empörte Oberst zum Polizeirevier und kam mit einem Schutzmann zurück. Inzwischen war der Hummer aber verkauft. Der Angeklagte bestritt, daß der Hummer in einer quälerischen Weise gefesselt worden sei. Die Scheren würden immer zusammengebunden, und die Schnur über den Rücken solle verhindern, daß der Hummer herausspringe. Er führe seit dreißig Jahren sein Geschäft und könne nur sagen, daß diese Art Fesselung üblich sei. Im übrigen habe er von der Ausstellung des Hummers im Fenster nichts gewußt. Das habe sein Dekorateur selbständig gemacht. Dieser bestätigte das auch als Zeuge. Nun wurden die Sachverständigen gehört. Professor Brühl sagte, daß wir noch nicht so weit seien, um festzustellen, ob ein Hummer Schmerz empfinde. Das könnte uns der Hummer nur selbst sagen. Er müsse als Biologe verneinen, daß ein wirbelloses Tier wie der Hummer einen qualitativ nennenswerten Schmerz empfinde.
Dr. Heinroth, Direktor des Aquariums, führte aus, daß der Hummer in seinem Wohlbefinden schon beim Fang, noch mehr aber beim Verpacken und Verkauf gestört werde. Das Festlegen an einem trockenen Orte sei dem Hummer unangenehm, und er versuche, davon wegzukommen, daher seine Bewegungen. Es war nicht nötig, den Hummer so fest anzubinden, wie der Oberst es dargestellt habe. Dann wurde noch ein gerichtlicher Sachverständiger für Delikatessen vernommen. Er sagte, daß es üblich sei, Hummer in Schalen auszustellen. Der Anklagevertreter bedauerte, daß die juristisch und menschlich sehr interessante Frage in diesem Falle durch ein Gerichtsurteil nicht geklärt werden könne. Der Angeklagte könne nicht bestraft werden, weil er diese Ausstellung des Hummers nicht selbst veranlaßt habe. Das Gericht kam dann aus demselben Grunde zu einer Freisprechung, obwohl es die Tierquälerei an sich für erwiesen hielt... Zu welchem Prozeß man vielleicht die Frage beifügen sollte, ob sich der osmanische Herr Oberst auch zu einem lebhaften Protest entschlossen hat, als er sah und vernahm wie die Türken die Armenier gequält, gemartert und geschlachtet haben...

Bereits ein gutes Jahr zuvor, im Februar 1929, machte Wilhelm ungewollt und irgendwie "inkognito" Schlagzeilen im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess. In der Berichterstattung zum "Fall Willi Bruß" taucht seine Person am Rande auf. Dabei wurde jedoch davon ausgegangen, daß es sich um ein Hirngespinst des Beschuldigten handelt...
Deutsche Allgemeine Zeitung (26. Februar 1929)

Berliner Börsenzeitung (26. Februar 1929)

Der vorsitzende Richter sprach von einer "romanhaft klingenden Erzählung, die erst auftauchte, als der Angeklagte auf seinen Geisteszustand untersucht wurde". Dabei wird insgesamt aber nicht wirklich klar, welche entlastende Wirkung diese Geschichte für Bruß hätte entfalten können.

Ich hingegen frage mich, ob nicht vielleicht doch ein Funken Wahrheit in den Ausführungen von Bruß lag, die sich im übrigen auf eine Zeit bezogen, die zu diesem Punkt schon fünf Jahre zurücklag...

Das Schöffengericht verurteilte schließlich den Angeklagten Willi Bruß wegen Untreue, Unterschlagung und Betrugs zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Die Strafe war durch Anrechnung der Untersuchungshaft verbüßt.

1932 - Wilhelm entdeckte eine neue Leidenschaft: die Schriftstellerei!
Nachdem er Mitte 1931 einen Radiovortrag gehalten hatte (Die Sendung ging am 16. August 1931 zwischen 19:20 und 19:40 über den Äther), ...

... entschloß er sich, diesen auch noch in Schriftform zu veröffentlichen. Und so erschien im Berliner R.Eisenschmidt-Verlag, der für militärhistorische Veröffentlichungen bekannt war, im Juni 1932 ein 30-seitiges Büchlein mit dem Titel "Marschall Liman von Sanders Pascha und sein Werk". Der Autor, der mit H. e. R. angegeben wird, war natürlich kein Geringerer als Harun-el-Raschid Bey.

Das in Fachkreisen international bekannt gewordene und auch vom Gegner anerkannte kleine Werk "Marschall Liman v. Sanders Pascha und sein Werk" ist von mir geschrieben. Es handelt sich um eine miltärisch-politische Skizze der historischen Begebenheiten.

Was die angesprochenen "Fachkreise" betrifft, war wohl so etwas wie die nachfolgende Rezension gemeint, die in der "Allgemeinen schweizerischen Militärzeitung" (Heft 9/1932) erschien:

Marschall Liman von Sanders Pascha und sein Werk. Von H.e.R. Verlag von R.Eisenschmidt, Berlin NW 7, 1932. Preis RM. 1.30.

  In klarer und fesselnder Weise bringt H.e.R. auf 30 Druckseiten die Verteidigung der Dardanellen durch Marschall Liman von Sanders - seit 1913 Chef der deutschen Militärkommission zur Reorganisation der türkischen Armee - zur Anschauung.
  Was der Schrift ihre besondere Bedeutung und bleibenden Wert verleiht, ist die klare, sachliche und anschauliche Darstellung der erbitterten Kämpfe um die türkischen Meerengen: Alle noch so hartnäckigen Anstrengungen der Engländer und Franzosen, 1915 von der See- oder Landseite her die Dardanellen zu durchbrechen, scheiterten an der zähen und ausdauernden türkischen Verteidigung unter Liman von Sanders. Alles setzte die Entente daran, den Durchstoss zu erzwingen, der ihr die so wichtige Verbindung mit dem russischen Verbündeten bringen sollte; ein Erfolg bedeutete Zufuhrmöglichkeit für Waffen und Munition nach Russland, Ausfuhr russischen Getreides nach dem Westen, endgültige Erledigung der Türkei, dazu freie Einfahrt in die Donau und Gewinnung des teilweise noch neutralen Balkan!

  Doch Liman von Sanders unermüdliche Tatkraft, seiner geschickten Disposition und meisterhaften Taktik gelang es, mit geringen und unzulänglich ausgerüsteten Streitkräften dieses in so hohem Masse gefährdete äusserste Bollwerk der Mittelmächte zu halten.

  Im weitern setzt sich der Verfasser die Zeichnung der überragenden Persönlichkeit Liman von Sanders, einer seltenen edlen Führergestalt, zur Aufgabe.

  Es ist der inhaltsreichen Schrift, die namentlich auch überaus klar und zutreffend die grosse politische und militärische Tragweite der Kämpfe um die Dardanellen für den gesamten Kriegsverlauf zur Geltung bringt, nur zu wünschen, dass ihr recht vielerorts die verdiente Beachtung zuteil werde.

Lt. v. Graffenried.

Der glühende Verehrer Sanders' ließ später von der Witwe des Marschalls ein Schriftstück verfassen, in dem seine Beziehung zu Otto Liman von Sanders beschrieben werden sollte. Den Brief, der nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben ist, wird er daraufhin gerne als Beweis der Verbundenheit zwischen ihm und dem "Löwen von Gallipoli" einsetzen, um daraus ggf. Kapital zu schlagen. Als verkaufsförderndes Instrument für das Büchlein kam er jedoch um mindestens ein Jahr zu spät...

Sehr verehrter Harun-el-Raschid Bey!

Sie fragen mich, ob ich bereit sei, einer entsprechend qualifizierten Persönlichkeit kundzugeben, welches Urteil und welche Einstellung mein verewigter Mann, Ihr dereinstiger Marschall Liman von Sanders Pascha, in Bezug auf Sie hatte.

Ich bin nicht nur herzlich gern dazu bereit, sondern will in kurzer Ausführung diese Einstellung meines verewigten Mannes Ihnen schriftlich geben. Ich bereite damit einerseits mir selbst eine Freude, weil ich aus eigenster Kenntnis ja weiss, dass Sie nicht nur in Seinem Leben Ihm mit wirklicher Treue zur Seite standen, sondern auch übers ein Grab hinweg Sein teures Andenken wachzuhalten sich bestreben.
Andererseits aber betrachte ich die Erfüllung Ihrer Bitte in dieser Form als meine Pflicht, weil ich das Bewusstsein in mir trage, dass die Erfüllung den Intentionen meines verewigten Mannes entspricht, eine Erfüllung, der Er jederzeit freudig nachgekommen wäre.
Nach bestem Wissen und Können also gebe ich meine nachfolgende Äusserung:

Sie haben, sehr verehrter Harun-el-Raschid Bey, meinem Manne in Kriegszeiten zunächst in der Stellung des Maschinen-Gewehr-Kommandeurs in seinem Stabe dienstlich nahegestanden. Die dienstliche Einschätzung Ihrer Person hat mein mann bestimmt, Sie auch ausserhalb der dienstlichen Bindungen zu Seiner Person heranzuziehen und Sie eines Vertrauens zu würdigen, das über das Mass der dienstlichen Beziehungen weit hinausging. Mein Mann sagte, dass Sie einer Seiner tüchtigsten und pflichttreuesten Offiziere gewesen seien, ganz besonders geeignet für verantwortungsvolle und selbstständige Position im Auslandsdienst, sodass er trotz Seines Bedauerns, Sie dadurch in Seiner Umgebung missen zu müssen, Sie trotz Ihrer Jugend vorgeschlagen hat für den verantwortungsvollen Posten des General-Inspekteurs des gesamten Maschinengewehr-Wesens der Türkei. Obwohl an sich nunmehr die dienstlichen Beziehungen zwischen meinem Mann und Ihnen nur noch mittelbare waren, hat mein Mann Sie weiterhin seines persönlichen ja, väterlichen Wohlwollens gewürdigt; und der Eiserne Marschall pflegte derartiges nicht zu tun, wenn er sich nicht dessen sicher war, dass der so Gewürdigte Sein Vertrauen und seine Güte in vollem Maße verdiente.

Mein Mann hat immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass im Gegensatz zu vielen anderen Sie, verehrter Harun-el-Raschid Bey, niemals sein Vertrauen enttäuscht haben.
Ich selbst weiss aus eigenster Kenntnis, dass Sie nicht zu denen gehören, die aus dem Gesichtskreis meines Mannes verschwanden, als der Umsturz in Deutschland neue Verhältnisse schuf. Sie haben vielmehr meinem Mann die Dankbarkeit und die echte soldatische Treue bis zu Seinem Tode bewahrt; und bis zu Seinem Tode hat mein verewigter Mann Ihrer gedacht und mit immer gleich warmen Worten überzeugter Anerkennung und herzlichen Wohlwollens von Ihnen gesprochen.
Ihre Treue haben Sie Ihrem verewigten Marschall auch über das Grab des "Löwen von Gallipoli" hinaus gehalten; ich wähle diese Bezeichnung absichtlich, weil Sie ja in Ihrer sachlich wie stilistisch vorzüglichen Broschüre "Marschall Liman von Sanders Pascha und sein Werk" ihren Ursprung hat.
Ich glaube, mit obigen Ausführungen kurz und eindeutig die Stellungnahme skizziert zu haben, die immer wieder im Gedenken meines verewigten Mannes an Sie zu überzeugtem Ausdruck gekommen ist.
Dies Zeugnis Ihres verewigten Marschalls stelle ich mit eigener Freude Ihnen von Herzen gern zur Verfügung.
Ich schliesse meine aufrichtigen Wünsche für Sie und Ihre Zukunft an und bleibe mit besten Grüssen

Ihre sehr ergebene
gez. Elisabeth Liman von Sanders.
München, 26. IX. 33

Beim Lesen dieser Zeilen kommt einem unweigerlich der Begriff "Gefälligkeitsgutachten" in den Sinn denn große Teile des Briefes erwecken den Eindruck, "vorgeschrieben" zu sein. Diese Einschätzung wird durch die Tatsache gestützt, daß die Briefeschreiberin die zweite Ehefrau Liman von Sanders war, die dieser erst einige Zeit nach seiner endgültigen Rückkehr aus dem Osmanischen Reich heiratete. Sie war somit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal mittelbar in die dortigen Geschehnisse der Jahre 1917/18 involviert.

Ein Aspekt des Lebens von Wilhelm junior blieb bislang weitesgehend unberücksichtigt, da er bei all den teilweise abenteuerlichen Wendungen seiner bisherigen Vita völlig in den Hintergrund gedrückt wurde. Man traute ihm ja bei der ganzen Tag-und-Nacht-Beschäftigung auf den unterschiedlichsten Betätigungsfeldern schon gar nicht mehr zu, daß er dafür überhaupt noch Zeit hatte: die Frauen!

Nachdem er im Mai 1912 Hildegard Schmidt geheiratet hatte, worüber weiter vorn berichtet wird, versiegten Informationen über Ehe- und Familienleben vollständig.
Es ist festzuhalten, daß die Ehe irgendwann Anfang der 1920er Jahre in die Brüche ging. Vorliegende Dokumente belegen, daß Hildegard im März 1924 erneut heiratete. Darin wird ihr Familienname mit Harun-el-Raschid Hintersatz angegeben, was belegt, daß sie Wilhelms Namenswechsel noch als dessen Ehefrau mitgemacht hatte. Wann die Scheidung tatsächlich erfolgte, kann derzeit nur grob eingegrenzt werden: Definitiv nach August 1920 und mit Sicherheit vor Juni 1924...

... denn am 11. Juni 1924 geschah auf dem Standesamt in Berlin-Wilmersdorf folgendes: Der Major außer Dienst und Kaiserliche osmanische Oberst außer Dienst Johannes Robert Wilhelm Harun-el-Raschid Hintersatz ehelichte an diesem Tag und an diesem Ort die bereits zuvor einmal verheiratete Martha Frieda Kuwert, geborene Staats. Die Angetraute, ohne Beruf, stammte aus Schleusenau, Kreis Bromberg (später Okole, Polen) und ist zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt (geb. 13. Januar 1895). Wilhelm ist 38.

Während die Braut als Zeugen mit einem "Vollziehungsbeamten" aufwartet, besitzt der Trauzeuge des Bräutigams scheinbar einen orientalischen Hintergrund.

Hohen-Neuendorf (Sommer 1927)

Ob es sich bei der Dame links auf dem oberen Foto um die zweite Frau Harun-el-Raschid handelt, ist ungewiss. Die Chancen stehen jedoch nicht schlecht, da ich mir ziemlich sicher bin, daß wir selbige auch in folgendem Film sehen...

Bei seinen häufigen Besuchen in Senftenberg läuft Wilhelm im Dezember 1932 einem Hobbyfilmer vor die Linse. Das das nicht ganz zufällig geschah, kann man daraus schlußfolgern, daß er, seine Begleiterin und der Hund zweimal hintereinander von unterschiedlichen Positionen aus in der Senftenberger Bahnhofstraße gefilmt wurden. In beiden Fällen ist er sich der Aufnahme bewußt, da er freundlich seinen Hut zum Gruße schwenkt. In der zweiten Sequenz wird er regelrecht durch den Mann an der Kamera, Edmund Grubann, seines Zeichens Mitherausgeber des "Senftenberger Anzeiger", verfolgt.

Und dann? Der Klassiker. Wilhelm lernt im Februar 1933 die 26 Jahre jüngere Milly Lindener kennen und verliebt sich scheinbar Hals-über-Kopf in die attraktive 20-jährige Berlinerin.

Milly Martha Luise Käthe Lindener
geboren am 25.09.1912 in Berlin-Lankwitz
Der Hund durfte (vorerst) bleiben, die Frau musste gehen...

Milly und Wilhelm
Kolberger Deep (Juli 1933)
Was Mutter und Vater Hintersatz, die ja mittlerweile so einiges von ihrem Sohn gewöhnt und selbst seit 48 Jahren miteinander verheiratet waren, über die neue Liebe ihres "Helmi" dachten, kann man sich vielleicht vorstellen.
Wilhelm kam sicherheitshalber erst einmal allein zum 79. Geburtstag des Vaters nach Senftenberg...

19. Januar 1934
Louise und Wilhelm Hintersatz am
79. Geburtstag des Oberpfarrers a.D.
Senftenberg (Januar 1934)
Während Wilhelm mit seiner Milly herumturtelt stehen in Senftenberg wichtige Veränderungen an... Louise und Wilhelm senior wechseln ein letztes Mal die Adresse. Mitte des Jahres 1934 steht der Umzug aus der Gartenstraße 31 in die Promenade Ost 2, die zu diesem Zeitpunkt bereits in Adolf-Hitler-Promenade 2 umbenannt worden war, an. Das neue Domizil ist in Senftenberg gut bekannt, beherbergte es doch in den 40 Jahren zuvor ein Fotoatelier unter wechselnden Namen. Den Anfang machte Hermann Meyer gefolgt von Rudolf Käding, nach dessen Tod Wilhelm Theinert die Räumlichkeiten übernahm.
5. Mai 1934 im rückwärtigen Teil der Gartenstraße 31.
Im Hintergrund sind die Rückfronten der Senftenberger
Bahnhofstraße zu erkennen.
Im ersten Stock dieses Haus bezog das betagte Ehepaar, nachdem es noch seinen 49. Hochzeitstag in der Gartenstraße 31 gefeiert hatte, eine kleine Wohnung.

Senftenberg, Adolf-Hitler-Promenade 2
Spätestens im August 1934 war der Umzug unter Dach und Fach. Die beiden lassen sich den Kaffee nunmehr mit direktem Blick auf eine der Haupverkehrsadern Senftenbergs schmecken...

21. August 1934
Ein in vielerlei Hinsicht turbulentes Jahr 1935 beginnt im Januar mit dem 80. Geburtstag des Vaters. Der "Senftenberger Anzeiger" rollt hierzu noch einmal kurz dessen Werdegang auf und liefert einige Details, die wir bereits kannten. Wartet aber auch mit neuen Informationen aus der Vita des Pfarrers a.D. auf, die dazu beitragen, die Geschichte zu vervollkommnen. Prinzipiell sind bislang die meisten Stationen seines Lebenswegs aus derartigen Zeitungsartikel rekonstruiert worden denn über eine umfassende Betrachtung seines Lebens ist bisher nichts bekannt.

19. Januar 1935
80. Geburtstag des Oberpfarrers a.D.
Senftenberger Anzeiger
(Januar 1935)
In Berlin werden derweil Nägel mit Köpfen gemacht.

Auf den Tag genau 2 Jahre nachdem sie sich kennenlernten, verloben sich Milly und Wilhelm.

Keiner aus Wilhelms Familie ist bei der kleinen Feier anwesend, die zwei Tage später stattfindet...

17. Februar 1935
Die Abwesenheit von irgendwelcher Senftenberger Verwandtschaft setzt sich auch am 3. Mai 1935 fort. An diesem Tag geht Wilhelm zum dritten Mal einen Bund der Ehe ein. Schauplatz der Hochzeit ist zunächst das Standesamt in Berlin-Lankwitz.

Standesamt Berlin-Lankwitz (3. Mai 1935)

Nach der standesamtlichen Trauung erfolgte noch eine sogenannte "Haustrauung". Die Zeremonie, die in den Räumen eines Berliner Restaurants abgehalten wurde, war teilweise oder ganz von muslimischem Charakter.

Wenn mich nicht alles täuscht, dann handelt es sich bei dem muslimischen Geistlichen auf dem Foto oben um Alim Idris, der schon 15 Jahre zuvor Wilhelm in den Kreis der Muslime aufgenommen hatte.

Die Frischvermählten.
Wilhelm und Frau Harun-el-Raschid Nr.3

Auch in Senftenberg feierte man in jenen Maitagen eine Hochzeit... und zwar die goldene von Louise und Wilhelm senior. Die Lokalpresse gratuliert schon einmal vorsorglich:

Senftenberger Anzeiger (3. Mai 1935)

5. Mai 1935 - Goldene Hochzeit
Anfang Juni 1935 trifft sich die ganze Familie in Senftenberg, denn der Ort stellt den Ausgangspunkt einer Hochzeitsreise dar, bei der Wilhelm und Milly zunächst zwei Monate lang viele tausend Kilometer mit dem Auto und dem Schiff zurücklegen und an deren Ende das Ziel 5.240 Kilometer Luftlinie vom Startpunkt entfernt sein wird.

4. Juni 1935 - Start der Reise vor der Senftenberger Adolf-Hitler-Promenade 2
Auf dem "Schwiegermuttersitz" des 40PS-Ford erkennt man den mitreisenden Chauffeur "Fritz".
Bei dem Mitreisenden handelte es sich übrigens um Fritz Vogel, Bruder von Wilhelms Schwager Georg Vogel. Dieser war offensichtlich für mehrere Monate daheim abkömmlich um das frischgebackene Ehepaar auf ihrer Reise zu begleiten.
Sehr wahrscheinlich zeichnete Fritz Vogel auch für einen Teil derjenigen Fotografien verantwortlich, auf denen Wilhelm und Milly gemeinsam zu sehen sind.

Am 4. Juni beginnt die große Fahrt im eigenen Auto, welche die drei und Wilhelms neuestes Haustier, eine große schwarze Dogge, zunächst an Wilhelms früheste "Wirkungsstätte" führt...

Von Senftenberg geht es direkt nach Pforta und von dort über die Rudelsburg und Jena nach Gernewitz. Am darauffolgenden Tag kämpft man sich über Nürnberg nach Roth vor um tags darauf Ingolstadt, München und Starnberg zu passieren und Unterkunft in Benediktbeuern zu nehmen. Von dort geht es via Mittenwald und Innsbruck nach Vipiteno wo man sich bereits auf italienischem Hoheitsgebiet befindet.
Nach einer Nacht dort geht es direkt weiter vorbei am Gardasee nach Verona, der Stadt von Romeo und Julia. In dieser Region halten sich die zwei einige Zeit auf und starten Ausflüge nach Vicenza, Lido di Venezia und wie könnte es anders sein? Venedig! Am 12. Juni führt der Weg von Verona über Padua, Rovigo, Ferrara, Bologna nach Florenz. Schon am nächsten Tag geht die Reise weiter nach Rom, wobei man Siena und Viterbo passiert.

In Rom macht man bis zum 3. Juli Station und unternimmt von dort aus Ausflüge nach Lido di Ostia, an den Lago di Nemi, nach Frascati und Tivoli.
Am 4. Juli schließlich starten Wilhelm und Milly Richtung Neapel um dort ein Schiff zu besteigen und am Folgetag Sizilien anzusteuern. Dort erreicht man am 6. Juli Syrakus.

Von Sizilien aus wagt man an Bord der "Vienna" den Sprung auf den afrikanischen Kontinent. Am 10. Juli erreicht man über einen Zwischenstop in Alexandria Port Said, wo man von Bord geht. Das Privatauto war zwar während der ganzen Reise dabei und ermöglichte es somit den beiden, sich unabhängig von lokalen Transportmitteln zu bewegen, doch die 200 Kilometer nach Kairo absolvierte man mit dem "Expreß", also der Eisenbahn, über Ismailia. Hier im Inneren des Landes verbringt man einige Tage, besichtigt Sakkara, Memphis, die Pyramiden von Gizeh und besucht das Nationalmuseum in Kairo. Am 16. Juli kehrt man nach Port Said zurück wo man sich auf den französischen Dampfer "Chenonceaux" begibt, um am Folgetag auszulaufen. Ziel: Djibouti.

Nach 6 Tagen Schiffsreise durch das Rote Meer erreicht man die Hafenstadt am Golf von Aden am 22. Juli 1935.

Der Zwischenstop in Djibouti dauerte 8 Tage und war in dieser Länge nicht geplant, denn: ... beinahe hätte die rötliche Erde des Landes meine sterbliche Hülle für immer aufgenommen. Nur der vorzüglichen Hilfe des französischen Chefarztes des französischen Garnisonlazaretts im Verein mit aufopferndster Pflege meiner Frau dankte ich die Rettung meines durch schwerste Toxinvergiftung in schmerzhaftesten Muskelkrämpfen sich windenden Körpers, dessen Gliedmaßen von unten her bereits zu erkalten begannen. Nach Auskurieren der gerade erwähnten Fischvergiftung geht es auf die vorerst letzte Etappe der Reise: Addis Abeba, der Hauptstadt des damaligen Kaiserreichs Abessinien. Die Stadt wird am 30. Juli 1935 erreicht...

Addis Abeba und das Abessinische Kaiserreich stehen am Vorabend einer italienischen Invasion, die als "Abessinienkrieg" oder "Zweiter Italienisch-Äthiopischer Krieg" in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Und Wilhelm Harun-el-Raschid Hintersatz Bey einmal mehr mittendrin...

Entlang der 780 Kilometer langen Eisenbahnstrecke (das Auto wurde auf einen Waggon geladen) von Djibouti nach Addis Abeba, die damals der allergrößte Teil der westlichen Reisenden nutzte, um in die Hauptstadt Abessiniens zu gelangen, konnten Wilhelm und Milly erste Eindrücke über Land und Leute gewinnen. Die Zugreise beschreibt Wilhelm als "wackelige Angelegenheit" :
Da "wackeln" – so ist's schon – wir zunächst durch glutheiße Dornensteppe. Auch in dieser, wenn auch nur dann und wann, tritt uns menschliches Leben entgegen. Kümmerliche Hütten und Zelte aus Lumpen. Kleine Herden von Ziegen und Schafen. Dann und wann auch mal Esel und Kamele. Nahe der abessinischen Grenze beginnt das Land seltsame Gestalt anzunehmen. Kohlschwarze Blöcke in allen Größen und Formen liegen wie von Dämonenhand geworfen umher – Lavafelder; und am Horizont schwelt Qualm aus noch tätigen Vulkanen. Die gleiche Landschaft, noch wilder, noch schwärzer, noch grausiger – darin die unsagbar trostlose Oede eines Salzsees, von Mensch wie Tier gemieden – gleitet später im abessinischen Lande an uns vorüber. Es sieht aus, als sei das furchtbare Geschehen, das diese Trümmerstätten schuf, vor kaum einigen Jahren gewesen...

Die Eisenbahnfahrt wird planmäßig(?) in der Nacht unterbrochen. Die Reisenden verbringen die Zeit der Dunkelheit in Dire-Daoua...
Mit Schaudern denken wir nur zurück an die Nacht in Dire-Daoua, einer der drei größten Städte Ethiopiens. Nicht der Sturm war’s, der in der Nacht uns keinen Schlaf tun und uns fürchten ließ, daß das Haus einstürzen könne, sondern die Betten in dem griechischen Hotel, das uns aufnahm. Sichtlich hatte die Bettwäsche unter den schmutzigen Moskitonetzen schon zahlreichen Reisenden vor uns dienen müssen; abgesehen von der Gesamtfarbe ließen unverkennbare Spuren darauf schließen.

Und nun die große afrikanische Steppe mit ihrem aus Filmen uns ja schon bekanntem Bilde: Das wogende gelbliche Gras, die Schirmakazien, überall die grotesken Formen der Termitenbauten, an allen Bäumen die kunstvoll gefertigten hängenden Nester der Webervögel. Und bald belebt sich das fremde Bild mit fremden Gestalten von Mensch und Tier. Da sitzen auf Felsblöcken die verschiedenen Affenarten, jagen davon, auf den Rücken die Kleinen mit sich nehmend. Verächtlich dreht ein riesiger Mantelpavian uns seine schmuckhaft rot leuchtende Kehrseite zu, als wir heran-„wackeln“. Gazellen und Antilopen äugen neugierig oder traben geruhsam davon. Vögel aller Arten, Größen und Farben bekommen wir zu Gesicht, mächtige Adler und Geier, die in den Lüften kreisen oder auf Felskuppen Ausschau halten. Hie und da ringelt von einem Baum herab eine große Sachlange ihren Körper träge ins Gras hinein. Zebras, Leoparden und Löwen, die diese Gegenden im Verein mit anderem Raubgetier bevölkern, haben wir nicht gesehen, wohl aber die schleichende Hyäne und den lauschenden Schakal. Mehr und mehr nimmt allmählich die Landschaft gebirgigen Charakter an. Dann und wann führt die Strecke auf kühn angelegten Brücken über tiefe Schluchten und reißende Flußläufe. Immer fruchtbarer – mit üppig grünen, wundervoll blühenden Kakteen, hochaufgeschossen wie Bäume – und mehr besiedelt wird das Land. Ackerbau beginnt. Es wird gleichzeitig kühler und schließlich nahezu kalt. So wenigstens empfanden wir diese Kühle, die der eines deutschen Septembertages entsprechen mag. Sauber und blumenumrankt die Häuser der Bahnstationen. Da – ist’s möglich? – eine heißt, im Bergland gelegen, „Gotha“.

Obwohl man bereits in Ägypten erste Kontakte zum Leben auf dem afrikanischen Kontinent knüpfen konnte, hatte das was die beiden nun erblickten so gut wie nichts mehr mit ihrem Lebensstil in Berlin zu tun und als pure Hochzeitsreise ging das für damalige Verhältnisse auch nicht mehr durch. Deshalb ist die Frage erlaubt, ob dieser Teil der Reise nicht mit einer Mission versehen war...

Eine längere und für meine vorliegend wichtige Schulung nicht unwesentliche Unterbrechung erfuhr meine Arbeit hier durch einen Ruf nach Italien zu Beginn des Jahres 1935.

Tatsächlich existieren zwei Fotos, datiert mit 10.04.35, die Wilhelm in Mailand zeigen.

Mit Italien verbanden mich seit langen Jahren freundschaftliche Beziehungen. Ich sah in Italien den hungrigen Gegenspieler zum vollgefutterten England.
Der Kgl. Italienische Generalstab hat mir im Verfolg besagter Beziehungen für den zu erwartenden Krieg in Afrika Aufzug und Durchführung seines Nachrichtendienstes hinter dem Feinde anvertraut.

Auf Befehlsempfang in Italien?
Wilhelm am 10. April 1935 vor dem Mailänder Dom
Unter der Maske eines Kriegsberichterstatters für die türkischen amtlichen Zeitungen "Tan" und "Semen" (in einer anderen Version ist "für die türkische Zeitung TAN und die griechische Zeitung MAKEDONIA" die Rede) habe ich meine Aufgabe bis zu ihrem beinahe kritisch gewordenen Ende so durchgeführt, daß ich bis in allerletzte Zeit hinein der "erklärte Vertraute" des Negus und in wöchentlich durchschnittlich zweimaligen Geheimbesprechungen sein vermeintlicher Berater war, daß ich nur mit Diplomatie und Gewandtheit die mir zugedachte Ernennung zum Vizechef des abess. Generalstabes zu umgehen vermochte, daß andererseits der Italienischen Obersten Heeresleitung keine der strategischen wie politischen Ideen auf abessinischer Seite unbekannt blieb, daß sogar der englische Nachrichtendienst sich an mich heranmachte um von mir zu profitieren, mit jeder Möglichkeit rechnend, nur nicht mit der, daß ich auf... italienischer Seite stand. Ich habe dies Vertrauen des Secret Service weidlich in "meinem" Sinne ausgenützt. Abgesehen von meinem größten Trumpf, dem Vertrauen des Negus selbst, war das Vertrauen der eingeborenen Mohamedaner das beste Instrument für meine Arbeit. Die Mohamedaner sahen in mir einen Glaubensbruder, der mit ihnen ohne Scheu in ihrer Moschee betete, zugleich den an Bildung und Schule ihnen überlegenen Europäer, zudem den ... Deutschen.
So entsandten sie eine Vertretung ihrer Gemeinschaft zu mir. Soweit ich es ohne Gefährdung meiner Arbeit vermochte, habe ich ihrer Interessen und Sorgen mich angenommen. Es hat nicht lange gedauert, da standen aus den mohamedanischen Kreisen mir zahlreiche Kräfte zur Verfügung auch für meine Ziele.

Zeitungs- oder Geheimdienstberichte? - Addis Abeba (September 1935)

Obwohl man mittlerweile so einiges an Geschichten gelesen hat, hier scheint mir, daß sich das Verhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit stark zugunsten des ersteren verschiebt... Ich habe aktuell kein Gefühl dafür, wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen ist. Andererseits muß man auch gestehen, daß in allen bisherigen Erzählungen wenigstens ein Fünkchen Wahrheit steckte...
Ja, Wilhelm und Milly waren zum Tee beim Negus Negest, dem "König der Könige", dem abessinischen Kaiser Haile Selassie. 3 Daten sind dafür überliefert: 3. August, 15. August und 19. September. Wilhelm verarbeitete die, bei diesen Gelegenheiten gewonnenen Eindrücke in Form zweier Reports innerhalb der von ihm verfassten Berichtsserie "In Abessinien - Reiseberichte eines Landsmannes.", die im "Senftenberger Anzeiger" zum Abdruck gelangte. Außerdem existieren Fotos, die in direkter Umgebung Haile Selassis von Wilhelm oder Milly aufgenommen wurden. Schaut man sich jedoch historische Filmaufnahmen aus dem Addis Abeba des Jahres 1935 an, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß dies keine große Kunst war. Zumindest in dieser Beziehung präsentierte sich der Kaiser sehr volksnah.
Wilhelms regelmäßige Geheimbesprechungen mit dem Kaiser waren wahrscheinlich nicht viel mehr, als die üblichen Audienzen, die der Negus täglich abhielt und zu denen sich Einheimische wie auch in Addis Abeba lebende Europäer und Amerikaner regelmäßig in Scharen einfanden.
Und auch der Schwenk zu den islamischen Kontakten ist wohl sehr weit hergeholt... Abessinien in jener Zeit war, wie auch das Äthiopien von heute, ein Vielvölkerstaat mit einer bunten Mischung aus Volksstämmen und damit verbundenen Religions- und (Aber)glaubensausrichtungen. Der Islam spielte keine zentrale Rolle.

Aus der damaligen Zeitspanne stammt ein Aufsatz der bekannten arabischen Zeitung "Al Mokattam"...

Oberst Harun-el-Raschid Bey SCHRIFTSTELLER oder ob der Oberst ein Deutscher LAWRENCE ist?

Sonderbericht des Al-Mokattan aus ADDIS-ABEBA v. 2. September 1935.

Auf der Liste der 62 Pressevertreter hier findet sich der Name Harun-el-Raschid Bey als der des Berichterstatters der Türkischen Zeitung "TAN" sowie der Deutschen "Frankfurter Zeitung". Der NAME zieht natürlich die Aufmerksamkeit auf sich für jeden, der weiss, dass es da sich um einen Deutschen handelt.

Mein Interesse und meine Neugierde haben mich zu dem Bemühen veranlasst, Harun-el-Raschid Bey kennenzulernen.
Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass er, geboren in einer kleinen Stadt Preussens, seine Familie auf Tiroler Ursprung zurückführt, dass er auf einer der 3 Fürstenschulen des kaiserlichen Deutschlands sein Examen bestanden und in Friedenszeit vielseitige militärische Dienste geleistet habe. Bei Ausbruch des Weltkrieges sei er einem hohen Stabe in der Armee von Kluck zugeteilt gewesen als Ordonnanzoffizier. Nach seiner ersten Verwundung (er war dreimal verwundet) sei er der Inspektion der Luftwaffe überwiesen worden.
Einem Ondit zufolge war er erfolgreich auch mit der Organisation des Finnischen Aufstandes befasst.
Wer den Oberst in höchstoffiziellem Gesellschaftsanzug sieht, sieht ihn im Schmuck seiner zahlreichen Kriegsorden, darunter dem Kommandeurskreuz der "Weissen Rose Finnlands". Im weiteren Verlauf des Krieges ging "UNSER" Harun in die türkische Armee über, und zwar als Maschinengewehrkommandeur im Stabe des Generals Liman v. Sanders Pascha. Dieser General hat die Dienste des jungen (damals erst 30 Jahre alt) Offiziers zu schätzen gewusst. Im Verfolg dessen hat Seine Majestät der Sultan, Harun-el-Raschid zum General-Inspekteur des gesamten M.G.-Wesens ernannt.
In dieser Stellung, wohl ein Ausdruck seines Dankes, hat Harun-el-Raschid Bey seinen Übertritt zum Islam vollzogen. Dabei hat der Scheich ül-Islam ihm den bekannten islamischen Namen verliehen. Freunde aber, die ihn kennen, berichten, dass er schon in frühester Jugend geneigt war, in die Türkei zu gehen. Es ist also kein Wunder, wenn er dann in der ihm übertragenen verantwortungsvollen Stellung in der Türkei mit ganzem Herzen seinen Dienst getan hat.
Sein wichtigstes Werk in dieser Stellung war die Vereinheitlichung der Bewaffnung selbst in der ihm anvertrauten Maschinengewehrtruppe. In das vorhandene Durcheinander von russischen, deutschen und anderen Waffen innerhalb der Armeeverbände hat er, Armee für Armee, Vereinheitlichungen gebracht, also dergestalt, dass in jeder Armee nur ein Maschinengewehrfabrikat, damit nur noch ein Kaliber und dies in Übereinstimmung mit dem der Infanterie, vorhanden war.
Hätte der Weltkrieg nicht mit dem Sieg der Allierten geendet, so hätte sicher Harun-el-Raschid in der Türkei eine große Aufgabe zu erfüllen gehabt.

Nun hat ein günstiges Geschick mir die Gelegenheit gegeben, diesen Harun-el-Raschid in ADDIS-ABEBA, und zwar in der Pension "Deutsches Haus" persönlich kennenzulernen.
Da stand ich nun vor einem Manne, der Deutsch, Türkisch, Französisch und auch Englisch spricht. Ich habe ihn in ARABISCH begrüßt und er hat mir vollendet geantwortet.
Harun-el-Raschid ist etwa 50 Jahre alt. Aber auch heute sind ihm unverändert die Kennzeichen seiner militärischen Laufbahn aufgeprägt.
Auf meine Frage, wie er denn Journalist geworden sei, hat er mir geantwortet: "Ich habe über das Leben und Lebenswerk meines Marschall Liman von Sanders Pascha einen Rundfunk-Vortrag gehalten. Dieser Vortrag hat in der Öffentlichkeit solchen Anklang gefunden, daß man mich bat, den Vortrag in Druck zu geben. Das habe ich getan und mein Buch hat Beachtung gefunden in einem erheblichen Teil der Weltpresse, vor allem natürlich in der militärisch-politischen Fachpresse. Seitdem gehe ich in Mußezeiten auch der Schriftstellerei nach."
Von ihm selbst erfuhr ich noch, daß er bei Kriegsschluß, als die Engländer nahten, die Türkei mit einem Kahn über das Schwarze Meer verliess, nach schwerer Fahrt in Deutschland ankam, und in der deutschen Revolutionskrise die Organisation der ersten republikanischen Truppenformation übernahm. Sobald Ordnung und Ruhe wiederhergestellt war, hat er, seinen monarchischen Grundsätzen treu geblieben, seinen Dienst quittiert.
Doch, wie gesagt, Harun-el-Raschid ist auch heute noch "SOLDAT", Soldat in Haltung im Stehen wie im Gehen, in Gruss, wie Geste, sogar in der Art seiner Sprache.
In seiner täglichen Kleidung trägt er nur die "Rettungsmedaille am Bande", die ihm als jungen Offizier für Rettung von Menschenleben verliehen wurde.

Herr Heft (Betreiber des "Deutschen Hauses") mit Milly und Wilhelm
Addis Abeba (4. August 1935)
"Vor Abfahrt zum Tee beim Kaiser
(vor unserer Wohnung)"
"Frau Harun-el-Raschid als Teegast
S.M.d.Kaisers v. Ethiopien am 15.8.35,
links neben d. Kaiser - Prinz Makkonen"
Das Auto hatte es tatsächlich bis nach Abessinien geschafft... (27. Oktober 1935)
Hoch zu Pferde (Oktober 1935)
Addis Abeba 1935 (coloriert 2020)
Harun-el-Raschid's abessinische Freunde, die seine persönlichen Eigenschaften und seine militärischen Fähigkeiten kennen, bedauern es, daß er nicht in der Abessinischen Armee Dienste tut, da seine Kenntnisse und langjährigen Erfahrungen im Kriege der Abessinischen Armee sehr nützlich sein würden.
Ich habe den Glauben, daß dieser Mann aber nirgends Dienst und Arbeit zu übernehmen willens ist außer..... im islamischen Orient!

Während wir nun eine Tasse Kaffee tranken, zu der der Oberst mich einlud, trat an ihn in militärischer Haltung ein jüngerer schlanker Mensch heran und überreichte ihm einen Brief. Auf meine Frage, wer dieser Mensch gewesen sei, erwidert mir der Oberst, es sei sein Chauffeur, der bereits im Kriege bei ihm Dienste getan habe.
Harun-el-Raschid Bey ist nämlich aus Deutschland hierher mit seinem Kraftwagen gekommen und hat auch seine sehr verehrungswürdige Gattin sowie schließlich noch seine ihn überall begleitende treue Dogge mit sich gebracht.

Wilhelm "bändigt" den privaten Geparden
des Italienischen Militärattaches
Oberst Calderini (Oktober 1935)
Addis Abeba (November 1935)
Der oben wiedergegebene Zeitungsartikel liegt nur abschriftlich vor und dies möglicherweise nicht einmal vollständig. Mir fehlt da irgendwie ein Schluß. Überhaupt erscheint der gesamte Text im Kontext einer Zeitungsveröffentlichung ziemlich fragwürdig. Es müsste zunächst einmal geklärt werden, ob er tatsächlich so erschien. Eine Recherche im Zeitungsarchiv des " Al-Mokattam" sollte aufgrund des mitgelieferten Datums relativ zügig Ergebnisse liefern. Wenn man erstens Zugriff darauf hätte und zweitens auch noch arabisch lesen könnte.
Inhaltlich ist das Ganze ja nicht viel mehr als ein Lebenslauf, so wie ich ihn bis zu diesem Punkt auf den vorangegangenen Seiten rekonstruiert habe. Da sich die Aussagen in diesem Zeitungstext denen aus anderen Dokumenten stark gleichen, habe ich den Verdacht, daß der Verfasser des Textes kein anderer als Wilhelm selbst war...
Die (angebliche) Maskerade eines Journalisten pflegte Wilhelm doch einigermaßen konsequent. Ab dem 24. August 1935 erschienen im Senftenberger Anzeiger unter der Überschrift "Auf der Fahrt nach Abessinien. - Reisebericht eines Landsmanns." in kurzen Abständen Texte Wilhelms, die den Lesern die persönlichen Eindrücke des Afrikareisenden vermitteln sollten. Was zunächst mit privaten Erlebnissen und Einschätzungen begann, uferte später zu sehr theoretischen und langweiligen Abhandlungen hinsichtlich des äthiopischen Staates aus.

Nachdem der Erzähler in seiner Geschichte in Abessinien angelangt war, änderte sich mit Folge 4 auch der Titel der Serie. Die Schriftleitung des Senftenberger Anzeigers führte dazu aus:

Nachstehend setzen wir die veröffentlichten Reiseberichte, die wir unter dem Titel "Auf der Reise nach Abessinien" begannen, unter dem Titel "In Abessinien" fort. Wiederum stehen unserer geschätzen Leserschaft sehr aktuelle, flott und spannend geschriebene Abhandlungen bevor.

Die Serie der Reiseberichte lief im Senftenberger Anzeiger bis zum 15. Februar 1936 und war aufgrund des Postweges, den die Manuskripte nehmen mussten, natürlich um einiges zeitverzögert. Ob die Texte, die teilweise mit Fotografien des Verfassers illustriert wurden, auch in anderen deutschen Zeitungen erschienen, ist ungewiss. Wahrscheinlich nicht.

In jedem Fall erkennt man in den Abhandlungen teilweise eine große Portion Arroganz, Abgehobenheit, Deutschtümelei bis hin zu Anklängen von Rassismus.
Aus Gründen der Vollständigkeit werden alle vorliegenden Texte, die damals im Senftenberger Anzeiger abgedruckt worden sind, hier in Gänze wiedergegeben.

Es ist übrigens erstaunlich, wieviele Filmaufnahmen von Addis Abeba aus der Mitte der 1930er Jahre existieren. Ich kann nur die Empfehlung ausgeben, sich diese einmal anzusehen um sich selbst ein lebendiges Bild von den Gegebenheiten zu machen, die sich damals den Europäern im Allgemeinen und Wilhelm und Milly im Besonderen boten.
Da gibt es zum Beispiel eine "Fox-Movietone" - Wochenschau mit dem Titel "Addis Ababa prepares for war" und dreimal darf man raten, wen man bei 1:55 im Bewegtbild sieht...

Standbild aus dem Film

Die Filmsequenz entstand bei der Verabschiedung von italienischen Zivilisten, die angesichts der sich anbahnenden Invasion der italienischen Armee im Norden Abessiniens, Addis Abeba in Richtung Djibouti verlassen mussten. Möglicherweise existiert weiteres Filmmaterial von dieser (oder anderer) Gelegenheit. Nachdem wir nun wissen, wonach wir suchen müssen, sollte das Erkennen grundsätzlich kein Problem mehr darstellen.
Und tatsächlich! In einem Wochenschau-Auschnitt der British Pathé wird dasselbe Ereignis thematisiert und dabei mit etwas anderen Bildern illustriert. Auch hier können wir Wilhelm und sogar Milly ausmachen. Wir sehen beide am linken Bildrand zwischen 00:11 und 00:13.
Der Dame, die man in dem Film oben bereits auf dem Bahnsteig verabschiedet hatte, reicht man nochmals die Hände durch das geöffnete Waggonfenster.

British Pathé - "Foreigners leave Addis Ababa by train"
British Pathé gibt als Veröffentlichungsdatum der Szenen den 16. September 1935 an. Da das Filmmaterial jedoch erst noch nach Europa transportiert werden mußte, um hier geschnitten und eingearbeitet zu werden, muß man wohl davon ausgehen, daß die Aufnahmen bereits Anfang September gemacht wurden.

Mit Voranschreiten der Front in südwestlicher Richtung und dem Vormarsch der Italiener auf Addis Abeba wurde auch das Leben der restlichen Europäer zunehmend unsicherer. Da im Kriegsverlauf auch Bombardierungen und Granatenbeschuß Einzug hielt, war es angeraten, die umkämpften Gebiete zügig zu verlassen.
Und dies galt auch für Milly und Wilhelm. Wobei die Abreise der beiden aus Addis Abeba etwas ungeplant und hektisch erfolgte. Am 22. Dezember 1935 berichteten die Zeitungen über den Grund...

Die zugehörige Presseanweisung des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vom 23. Dezember des Jahres offenbart darüber hinaus, wie man Wilhelm an höherer Stelle einschätzte:

An dem aus Addis Abeba ausgewiesenen Harun al Raschid Hintersatz habe man kein besonderes Interesse. Er sei eine etwas romantische und abenteuerhafte Persoenlichkeit, ueber deren Ausweisung sich aufzuregen nicht angebracht sei.
Pariser Tageblatt (22. Dezember 1935)
"Der Wiener Tag" (22. Dezember 1935)
Der überraschenden Abreise des Paares gingen zwei "Hausbesuche" am 16. und 20. Dezember voraus. Wobei es sich fraglos um die, auch im Zeitungsbericht angesprochenen, Hausdurchsuchungen der entsprechenden äthiopischen Behörden, handelte. Zwischen diesen beiden Tagen wurde Wilhelm am 18. Dezember in Addis Abeba "überfallen". Genaueres hierzu ist nicht ermittelbar.

Grundsätzlich fiel Wilhelms Abgang in eine Zeit, in der die große Abreisewelle der vielen Glücksritter und Korrespondenten, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag einer Zeitung aus irgendeinem Land dieser Welt, Monate zuvor scharenweise in Addis Abeba eingefallen waren, um von hier hautnah über den heraufziehenden italienischen Angriffskrieg zu berichten, bereits im vollen Gange war.
Während von dieser generellen Bewegung kaum jemand Notiz nahm, stach Wilhelms Abreise dann doch etwas heraus. Immerhin berichteten mehrere internationale Zeitungen darüber.
Am 22. Dezember, morgens um 10 Uhr, traf die Entourage in Djibouti ein. Hier vertraute Wilhelm einem Journalisten der Press Association die Hintergründe für seine Ausweisung an. Daraus resultierten zahlreiche Texte in englischen Tageszeitungen, von denen nachfolgend nur ein kleiner Teil dargestellt wird:

"Belfast Telegraph" (23. Dezember 1935) - "The Scotsman" (24. Dezember 1935)
"The Irish Weekly" (28. Dezember 1935) - "The Manchester Evening News" (23. Dezember 1935)
"The Civil & Military Gazette" (22. Dezember 1935)

Die oben abgebildeten englischsprachigen Meldungen ähneln sich inhaltlich. Aber neben der generellen Information über Wilhelms Vergangenheit in der Türkei und den damit verbundenen Namenswechsel, transportieren die Texte vergleichsweise detaillierte Informationen. Demzufolge wurde Wilhelm von einem Bediensteten verraten, der scheinbar die brisante Information weitergab, daß in dem Auto, mit dem Wilhelm angereist war, ein kleines, aber leistungstarkes, Funkgerät verbaut war. Bedient wurde selbiges angeblich von Fritz Vogel, der offiziell als Chauffeur fungierte. Mit diesem Funkgerät soll der Erzählung nach Kontakt zur italienischen Seite gehalten worden sein.
Um 6 Uhr abends wurde das Haus des genannten "Dr. Farago" durch die örtliche Polizei umstellt. Hier waren die drei Deutschen (Milly, Wilhelm, Fritz) wohl schon seit einiger Zeit untergekommen, nachdem sie die erste Zeit im "Deutschen Haus" der Eheleute Heft logierten.
In der Unterkunft wurde die Dienerschaft verhört, sämtliche Räume durchsucht, Briefe, Fotos und Waffen konfisziert. Das Auto wurde eingezogen und allesamt wurden ohne Gepäck und Geld in die Eisenbahn gesetzt. Gespräche mit irgendjemandem, sowie das Hinzuziehen des deutschen Konsuls, waren untersagt.

Besagter Faragó hatte dem Vernehmen nach lediglich den Fehler begangen, die drei Spione in seinem Haus zu beherbergen. Grund genug, ihn ebenfalls des Landes zu verweisen.

Die Berichterstattung in US-amerikanischen Zeitungen machte aus Wilhelm mehrheitlich einen "Franz" wartete aber teilweise mit weiteren Details auf, die die Geschichte noch blumiger ausschmücken. Abweichend von den britischen Zeitungen lastete man die Schuld an Wilhelms "Auffliegen" jedoch nicht irgendwelchen Bediensteten an sondern lieferte die Information, daß die deutsche Gesandtschaft in Addis Abeba, namentlich Dr. Kirchholtes, eigene Nachforschungen bezüglich Wilhelm anstellte und die entsprechenden Ergebnisse den abessinischen Stellen übermittelte. Daraufhin ordnete der Negus höchstpersönlich die Gefangennahme und Ausweisung der Spionageverdächtigten an.

Tatsächlich waren sich Wilhelm und der Deutsche Gesandte Dr. Hans Kirchholtes bekannt. Letzterer folgte mit seiner Gattin neben anderen Gästen am 5. September 1935 der Einladung von Milly und Wilhelm in deren Wohnung. Weitere Beteiligte bei diesem gemütlichen Umtrunk: Dr. Kurt Ewert und Frau, Herr und Frau Dored (Paramount) sowie die Gattin des türkischen Botschafters Nizamettin Ayaşlı.
"The Philadelphia Inquirer" (22. Dezember 1935) - "The Miami News" (22. Dezember 1935)
"The Hamilton Spectator" (21. Dezember 1935)
"Oakland Tribune" (21. Dezember 1935)
Ob die einzelnen Bausteine dieser Legende aber allesamt der Wirklichkeit entsprachen? Wie immer bei Wilhelm, wird schon überall ein Fünkchen Wahrheit daran gewesen sein. Doch speziell die Rolle, die dieser ominöse Laszlo Faragó in der Angelegenheit spielte, bleibt aktuell nebulös.

Am 21. Dezember um 7 Uhr morgens setzte sich der Zug mit den vier Ausgewiesen von Addis Abeba in Richtung Djibouti in Bewegung. Eine Woche nach der Ankunft dort, ging es am 29. Dezember 1935 mit dem italienischen Frachtdampfer "SS Montenegro" in Richtung Norden. Am 30. Dezember erreichte man Assab und 2 Tage später ging man in Massaua von Bord. Von dort reiste man auf dem Landweg nach Asmara.