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erschienen im Senftenberger Anzeiger vom 12.November 1935
35.

Addis Abeba, 12. Okt. 1935.

„Trubel“ in Addis Abeba.

Wohin nun eigentlich – zum Bahnhof, zur italienischen Gesandtschaft oder zum „Gibbi“, dem Kaiserlichen Palast? Oder lieber zuerst zur englischen Gesandtschaft, um festzustellen, was es auf sich hat, mit dem angeblich dringenden Rat an die englischen Frauen und Kinder, abzureisen? Ein Durcheinander sondergleichen. Eine „Ente“ fetter als die andere; und jede bemüht sich, mit eiligem Flügelschlage die andere zu überholen. Nun, wir sehen zuerst zu, was es mit der italienischen Gesandtschaft auf sich hat. Es sollte doch der Zug nach Djibouti den Gesandten Graf Vinci mit dem gesamten restlichen Personal der Gesandtschaft aus dem Lande führen. Es ist bereits eine Stunde nach Abgangszeit. Der Gesandte und der Militärattaché, Oberst Calderini, fehlen. Das diplomatische Korps, vollzählig versammelt, flüstert aufgeregt. Die Ehrenkompanie harrt vergebens ihrer Aufgabe. Reiter sprengen vom Bahnhof stadtwärts, jagen von der Stadt her zum Bahnhof. Und schließlich geht es von Mund zu Mund: Der italienische Gesandte verweigert die Abfahrt. Mit dem Militärattaché gemeinsam hat er sich in der Gesandtschaft eingeschlossen und erklärt, keiner wie immer gearteten Gewalt weichen zu wollen, bevor der letzte seiner Konsularbeamten aus dem Inneren des Landes eingetroffen sei, und einer eben fehle noch. Genau wie vor dem Zuge die Ehrenkompanie, so steht vor dem Tore der italienischen Gesandtschaft vergeblich wartend die Kavallerieabteilung, die dem Wagen des abreisenden Diplomaten zum Bahnhof das „Geleit“ (Schutz oder Ehrung?) geben sollte, Aufregung im diplomatischen Korps; je nach „Einstellung“ ernste, ironische, belustigte – ja auch „spaßig“ kann man so etwas finden – und eiskalte Gesichter. Und nun kommt die offizielle Meldung von der Tatsache des Gerüchtes. Obwohl eigentlich keine Ueberraschung mehr, schlägt sie doch wie eine Bombe ein. Selbst im diplomatischen Korps geht die gewohnte Zurückhaltung verloren. Man „spricht“, während man sonst nur „denkt“. Und wieder spaltet der Kreis sich in „Für“, „Wider“ und … „eiskalt“. Da fehlen auch die nicht, die es in erster Linie als eine Brüskierung ihrer Würde empfinden, daß Graf Vinci sie auf dem Bahnhof antreten ließ, statt zuvor ihnen höflichst anzukündigen, was er zu tun gedenke.

Journalisten rasen inzwischen zur italienischen Gesandtschaft. Doch da steht ein Cordon von Militär. Keiner darf hinein. Und drin sitzen zwei Männer, Graf Vinco und Oberst Calderini, beide entschlossen, vor nichts zurückzuweichen, nicht zu gehen, bevor ihr letzter Beamter, für den sie sich verantwortlich fühlen, eingetroffen sei. Recht oder Unrecht? Klug oder unklug? Das mögen Berufene entscheiden. Das Eine aber sollte, ja, das muß Freund wie Feind anerkennen: Den beiden Männern kann keiner den persönlichen Mut bis zur letzten Konsequenz aberkennen. – Und was wird nun? Doch es ist ja „Trubel“ in Addis Abeba. Also jagen wir nun mal zum Kaiserlichen Palast; da sollen wilde Krieger aus dem Inneren eingetroffen sein, die die Landeshauptstadt auf dem Wege zur Nordfront passieren. Die „Enten“ (canards) schreien – und natürlich gibt der Radiodienst das schon in alle Welt – Zahlen wie 30 000, 35 000, 50 000 (wer bietet mehr?). Nun, tatsächlich handelt es sich immerhin um 19 000 Leute aus der Provinz Kambata, ein „Heerhaufen“ in üblicher patriarchalischer Gliederung unter seinem Chef Dedjasmatsch (General der Mitte) Maschescha.

Und wieder – wie die Irregulären beim Maskal-Fest – „fokern“ sie vor ihrem Kaiser, springen oder galoppieren (der eine ist beritten, der andere zu Fuß) vor ihn hin, schwingen Schwert, Lanze oder Gewehr – der eine ist so bewaffnet, der andere anders; und sind es Gewehre, so sind sie von allen erdenklichen Systemen! – und schreien ihm ihre Kriegs- und Todesbereitschaft in hohen Kehllauten zu. Auch in dieser Heerschar wieder Männer aller Altersstufen, vom Knaben bis zum silberhaarigen Alten, dem aber das Feuer der Begeisterung nicht minder aus den dunklen Augen sprüht wie der Jugend. Uniform? – Nein! Kleidung: die Landestracht in allen möglichen Schattierungen. Dazwischen immer wieder der Löwenfellschmuck der alten Menelikkrieger, die von ihrem Schild am linken Arm ebensowenig lassen können wie viele der Alten eben von Speer und Lanze. Dem Kaiser sieht man die Liebe zu diesen Getreuen am Auge an, das wohlwollend über sie gleitet. – Die wilde Schar ist vorüber. Und nun kommt etwas „Besonderes“, etwas, das uns an jene Männer erinnert, die droben in der italienischen Gesandtschaft sitzen, d.h. erinnert in – umgekehrten Sinne. Da kommen sei, die Askari (Schutzsoldaten) der italienischen Gesandtschaft. Es sind die den Ethiopiern engst verwandten italienischen Soldaten aus Erithrea, die die Gesandtschaftswache bildeten. Die Gesandtschaft ist verwaist. Nun haben sie sich zu ihren Landsleuten bekannt und um ihre Einstellung in die ethiopische Armee gebeten. Das, was hier vorgegangen ist, und die Tatsache der immer wiederholten Ueberläufe farbiger italienischer Soldaten, teils einzeln, teils in Trupps, oft nicht nur mit Gewehren, sondern sogar Maschinengewehren, sollte endlich den europäischen Mächten einen ernsten Wink geben inbezug auf die Zuverlässigkeit solcher Hilfskräfte und den „Wert“ ihrer Verwendung! Unbegreiflich ist es, daß man – an Warnungen wird es nicht gefehlt haben – italienischerseits diese Gefahr nicht erkannt oder aber eben unterschätzt hat. – 12 Uhr mittags. Es ist die höchste Zeit zu „windender“ Fahrt (größtmögliche Geschwindigkeit hier entsprechend dem schon beschriebenen Zustande der Straßen 70 Kilometer, das aber höchstfalls einmal auf eine Strecke von 100 Meter!) nach der englischen Gesandtschaft. Also es ist Tatsache, was diesmal die „Enten“ schrieen: Das englische Konsulat hat dringendst die allerbaldigste Abreise aller Frauen und Kinder empfohlen, darüber hinaus sogar die Abfahrt auch aller Männer, die nicht unbedingt gezwungen seien, hier zu bleiben.

Und wieder „Trubel“ in Addis Abeba: Der italienische Gesandte hat nunmehr mit seinem getreuen Militärattaché die Gesandtschaft verlassen. An Glossen ob des abgebrochenen Heldentums hat es nicht gefehlt. Doch jene Spötter taten den beiden Männern Unrecht. Man soll wirklich seine politische Einstellung für oder wider nicht übertragen auf seine Einstellung persönlich zu Männern, die in dem politischen Spiel figurieren. Hier jedenfalls kam der Spott zu früh. Nicht feige „gekniffen“ haben die zwei Italiener. Sie haben sich, da nach Ablauf des vom Negus ja gekündigten Agréments die italienische Gesandtschaft nicht mehr exterritorialer Boden war, in ethiopische Gefangenschaft begeben. In dieser aber verweigern sie nach wie vor – ja, eindeutig drohen sie für den Fall ihres Abschubes mit körperlicher Gewalt, der sie den äußersten körperlichen Widerstand entgegensetzen würden, den Tod von eigener Hand an!!! – ihre Abreise vor Eintreffen ihres letzten Konsularbeamten, für dessen sichere Heimkehr der Gesandte sich verantwortlich fühlt. Und die vornehme Denkweise des Negus wiederum zollt Achtung dieser Konsequenz in Mut und Pflichtgefühl. In Kürze wird der Gesandte mit Oberst Calderini und jenem täglich erwarteten Konsularagenten, der sich in eiligen Karawanenmärschen nähert, das Land verlassen. – Und wieder stehen schwarze Krieger vor den Toren der Hauptstadt, in der sie auf ihrem Durchmarsch zur Nordfront ihrem Kaiser huldigen wollen … Trubel in Addis Abeba!

Der tapfere italienische Militär-Attaché Oberst Calderini mit zwei seiner Askari